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Leseprobe: Clyátomon - Die Schlacht um die versunkenen Reiche

27.10.2017
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Der Meeresstrom von Gásko trug eine zitternde Kälte über den Grabenbruch von Hettya in die versunkenen Reiche. Und obwohl man dergleichen Veränderungen gewohnt war, deutete man die Zeichen. Massen von Menschen bewegten sich auf das Reich Delryen zu. Totenstille lag über der Hauptstadt Darnilor. Man sprach nicht darüber, aber man wusste, warum die Krieger des Reiches Dorkas nach Delryen gekommen waren.

Imendur, der König Delryens, schwamm unruhig im Turmzimmer seines Palastes auf und ab. Immer wieder hielt er an einer der weißen Marmorsäulen inne, sah aus dem Fenster und ließ den Blick über die prächtigen Gärten Darnilors mit ihren bunten Korallen und Strömungsspielen schweifen. Er fing mit den Händen einen Papageifisch, der in den Raum geschwommen war, und setzte ihn wieder aus dem Fenster. In diesem Moment betrat seine Frau Schárah das Zimmer. Liebevoll strich sie ihm eine schwarze Haarsträhne aus dem kantigen Gesicht. Imendur lächelte und fasste ihre Hand.
  »Vielleicht täuschst du dich und Dorkas greift uns überhaupt nicht an«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
  »Ein achtzehnjähriger, machthungriger König, der erfährt, dass das Nachbarreich im Besitz einer unbesiegbaren Waffe ist …? Der wird nicht warten, bis man sein Reich angreift, sondern losziehen, um sich diese Waffe zu holen. Jarmar wird mit hundertprozentiger Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen.«
  »Und Freywan? Glaubst du, dass auch der König Freyaras mit einer Armee nach Darnilor schwimmt?«, fragte Schárah besorgt.
  »Vermutlich. Aber wir sind vorbereitet. Ich habe alle verfügbaren Krieger eingezogen, um den Palast zu schützen. Du musst dir keine Sorgen machen. Ihr seid sicher, du und die Kinder.« Er küsste Schárah auf die Stirn. »Wie geht es ihnen heute?« In diesem Moment schwamm eilends ein kleiner Mann in den Raum. Sein Gesicht wirkte wie von Kinderhand geformt: die Wangen zu pausbäckig, die Lippen zu schmal, die Nase zu groß.
  »Thálian! Was gibt es?«
  »Jarmar hat mit seiner Armee die Grenzen Darnilors im Süden passiert.«
  Imendur schnaufte. »Schárah, bringe die Frauen und Kinder in den Fluchttunnel.«
  Nachdem seine Frau durch das Fenster den Raum verlassen hatte, wandte sich Imendur wieder seinem Kriegsberater und Vertrauten Thálian zu. »Dann ist es also soweit. Sag allen, sie sollen sich bereitmachen.«
  »Jawohl. Noch was: Unsere Späher sagen, Jarmars Krieger sind begleitet von den Meeresdrachen.«
  »Drachen?! Seit zweihundert Jahren hat es kein Bündnis zwischen Drachen und Menschen mehr gegeben. Ich möchte wirklich wissen, wie es Jarmar gelungen ist, die Drachen für sich zu gewinnen.«
  »Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte Thálian. »Aber viel schlimmer ist, dass ich nicht weiß, wie wir die Stadt gegen die Drachen verteidigen sollen. Gegen Jarmars Krieger hätten wir eine reelle Chance gehabt, aber die Drachen sind zu stark.«
  Imendurs Hände begannen zu schwitzen. Jarmars Bündnis mit den Drachen war eine sehr schlechte Nachricht für ihn. Er hoffte, dass es keine weiteren bösen Überraschungen geben würde. »Wir verteidigen den Palast wie geplant. Vielleicht sind die Drachen gar nicht so mächtig, wie wir denken. Immerhin ziehen sie ihre übernatürliche Kraft aus dem Clyátomon. Aber der ist nicht hier. Das könnte sie verwundbar machen.«
  »Vielleicht. Aber das ist nur eine Vermutung. Ich hoffe, dass Ihr Recht habt, Imendur.«
  Nachdem Thálian den Raum verlassen hatte, legte Imendur seine perlmuttfarbene Rüstung an. Er zog ein halblanges, schwarzes Gewand darüber, schnürte den mit Oreichalkos, einem orangen Stein, geschmückten Echsenledergürtel und griff nach seiner Armbrust. Dann rief er seine Meldeschwimmer und befahl, die Dächer und das kuppelförmige Haupttor über der Mitte des Palastes zu schließen.

Kurz darauf kehrte Thálian mit einem Wachmann zurück. Die beiden brachten einen alten Mann, den sie jeweils am Oberarm festhielten, zu Imendur. Angewidert betrachtete Imendur die unauffällige, gedrungene Gestalt mit den wachen blauen Augen über den dicken Tränensäcken. »Wer ist das denn? Haben wir bereits einen Gefangenen?«
  »Wir vermuten, ein Späher Jarmars«, antwortete Thálian.
  »Wer seid Ihr?«, fragte Imendur.
  »Ich möchte mit Euch sprechen«, sagte der Gefangene mit tiefer Stimme und legte die Stirn in Falten. »Mein Name ist Lanthan und ich komme als Freund.«
  »Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat«, erwiderte Imendur. Er bedeutete Thálian, den Gefangenen ins Turmzimmer zu bringen.
  Nachdem sie dort angekommen waren, sah sich Lanthan erst einmal suchend im Zimmer um.
  »Sprecht«, sagte Imendur ungeduldig.
  »Ah, hier ist sie also. Die Schiefertafel, auf die angeblich Prinz Custror vor zweihundert Jahren nach seiner Rückkehr vom Festland geschrieben hat, wo er den Clyátomon, die größte Waffe, die die versunkenen Reiche kennen, hinbringen sollte. Lasst mich raten: In diesem Brief steht, dass er gescheitert ist.«
  »Richtig. Der Stein der Macht soll sich im Jankágebirge hier in Delryen befinden. Wo er angeblich auch schon war, als noch die Drachen über die versunkenen Reiche herrschten. Aber ich nehme an, das wisst Ihr längst, wenn Ihr den Brief kennt.«
  »Und? Ist der Stein nun in Eurem Besitz? Denn in den Höhlen des Jankágebirges konnte Jarmar ihn nicht finden.«
  »Seid Ihr ernsthaft gekommen, um mich das zu fragen? Im Auftrag Jarmars? Das ist lächerlich. Meine Antwort würde an Jarmars Angriffsplänen nichts ändern, egal wie sie ausfällt.« Er wandte sich an Thálian. »Bringt ihn fort.«

  Thálian packte Lanthan und schleifte ihn aus dem Zimmer. Bevor sie den Raum verlassen hatten, drehte sich Lanthan noch einmal um.
  »Ich bin kein Bote Jarmars. Und wenn ich Euch einen guten Rat geben darf: Solltet Ihr den Clyátomon nicht besitzen, dann opfert einige Eurer Männer und leistet keinen großen Widerstand, wenn Jarmar hier einfällt. Nur dann wird man glauben, dass Ihr den Stein der Macht nicht besitzt.«
  »Was für ein dummer Ratschlag. Ich werde doch nicht zusehen, wie man meine Hauptstadt zerstört.«
  »Kommt jetzt!«, schimpfte Thálian und zog Lanthan mit sich. Die beiden hatten gerade das Turmzimmer verlassen, als ein lautes Trommelsignal ertönte. Es kündigte die Ankunft von Jarmars Armee an. Imendur schwamm zügig zu den Armbrustschützen, die ganz oben im Palast hinter den Schießscharten postiert waren. Von hier aus konnte er am weitesten sehen. Die Krieger Dorkas’ hatten sich mit Harpunen und Armbrüsten zwischen den mächtigen Rückenplatten der Drachen verschanzt. Jeder Drache trug zwei schwarze Hörner auf seinem schuppigen, blauvioletten Kopf. Sie stellten die größte Gefahr für das Tor zum Palast dar. Sollten die Drachen es wirklich schaffen einzudringen, müssten sich die Krieger vor ihren kräftigen Schwänzen mit den drei messerscharfen Spitzen in Acht nehmen. Es würde nicht leicht sein, die Drachenreiter mit dem vorbereiteten Bolzenhagel zu erwischen. Mit Schilden geschützt, saßen sie jeweils zu mehreren Dutzend auf den mächtigen Wesen. Den Drachen folgten viele hundert Speerkämpfer.

  »Armbrustschützen, haltet Euch bereit!«, rief Thálian und dann hörten sie auch schon die markerschütternden Angriffsschreie der Drachen. Lautlos warteten die Armbrustschützen hinter den engen Schießluken in der Decke des Palastes ab, bis sich die ersten Drachen direkt über dem Palast befanden. Ihre Bolzen trafen die empfindlichen Hals- und Bauchregionen der Tiere, sodass einige Drachen mit lautem Schlag auf die Decke des Palastes fielen. Die wenigsten der Drachenreiter konnten sich retten. Wer nicht rechtzeitig vom Rücken seines Drachen loskam, wurde unter dessen Gewicht begraben. Jarmars Krieger hatten dem wenig entgegenzusetzen; die meisten ihrer Bolzen verfehlten die schmalen Luken, hinter denen sich Imendurs Armbrustschützen verschanzt hielten.
  »Läuft doch ganz gut«, bemerkte Thálian.
  »Jarmar wird sich so leicht nicht aufhalten lassen«, entgegnete Imendur.
  »Was machen sie denn jetzt?«, rief Thálian. Eine Gruppe unbemannter Drachen formierte sich in vorderster Front.
  »Sichert das Tor!«, schrie Imendur. Im nächsten Moment stießen die Drachen senkrecht hinunter. Ihre mächtigen Hörner zersprengten die Riegel, die das Tor geschlossen hielten, mit einem lauten Krachen. Die Torflügel glitten zur Seite und die Drachen schwammen in den Palast.
  »Sie sind drin!« Der schlimmste Fall war eingetreten. Jarmar hatte es innerhalb kürzester Zeit geschafft, in den Palast einzudringen. Aber sie durften jetzt nicht aufgeben. Imendur gab seinen Speerkämpfern den Befehl zum Vormarsch, doch seine Krieger konnten den Drachen nicht lange standhalten. Der mächtige Schwanz eines Drachen peitschte in die Menge seines Heeres. Die Verluste, die allein dieser Schlag verursacht hatte, wollte er sich lieber gar nicht vorstellen. Imendur blieb bei den Armbrustschützen, die sich dem Tor zugewendet hatten. Er legte einen neuen Bolzen in seine Armbrust und spannte die Waffe durch Umlegen des Hebelarms. Der erste Schuss traf nicht senkrecht und prallte von den mächtigen Brustplatten des Drachen ab. Imendur schnaubte. Er durfte nicht die Nerven verlieren. Der zweite Bolzen traf den Drachen am Hals. Auf einmal erzitterte der Meeresboden.
  »Es sind Truppen Freyaras’, mein König«, sagte Thálian. Eigentlich hatte Imendurs Berater Nerven aus Stahl. Aber nun wirkte er schockiert. Es beunruhigte auch ihn, dass sie nun von zwei Armeen gleichzeitig angegriffen wurden.

  »Ich hatte gehofft, dass sie nicht so schnell da sein würden«, erwiderte Imendur. Obwohl Jarmars Krieger immer weiter in den Palast vordrangen, beobachtete Imendur wie gebannt Freywans Armee durch eine der Schießluken. Was beim Poseidon walzte da auf sie zu? Freywans Krieger kamen nicht alleine, sondern begleitet von einigen hundert Meeresechsen. Die dunkle, schuppige Haut der muskulösen Wesen schimmerte grünlich und ihre spitzen Mäuler reckten sie nach oben, während einige den kräftigen Schwanz immer wieder gegen den Meeresboden peitschten, was den Sand aufwirbelte. Sie flankierten die schwimmenden Krieger und bildeten zusätzlich drei Reihen übereinander in vorderster Front.
  »Sormáren!«, rief Imendur. »Auch Freywan ist ein Bündnis eingegangen. Ich frage mich, wie er diese Wesen kontrollieren will.«
  Jeder Schritt der Sormáren ließ einen dumpfen Schlag ertönen. Alle zusammen wurden wie ein Trommelgewitter in den Palast getragen. Die Echsen gaben kreischende Geräusche von sich, welche von ihren Reitern erwidert wurden. So wie Imendur Freywan, den König Freyaras, kannte, ritt er auf einer Meeresechse in vorderster Reihe. Imendur löste sich aus seiner Versteinerung und wandte sich an Thálian.
  »Vielleicht würde es mithilfe der drei Drachenringe doch funktionieren, die Drachen auf unsere Seite zu bekommen.«
  »Nach allem, was zwischen Euren Vorfahren und den Drachen vorgefallen ist? Glaubt Ihr wirklich, dass sie nun einfach so für Euch kämpfen würden?«
  »Eigentlich nicht. Aber einen Versuch wäre es wert.«
  »Wo habt Ihr die Ringe denn?«, fragte Thálian nach.
  »Meine Frau trägt sie an einer Kette um den Hals, verborgen unter ihrem Gewand.«
  »Dann ist es ohnehin zu spät. Schárah wird den Fluchttunnel inzwischen erreicht haben. Es würde zu lange dauern, die Ringe zu holen. Ihr solltet Eure Truppen in Stellung bringen, um Freywan und die Echsen aufzuhalten.«
  Es war das erste Mal, seitdem Imendur regierte, dass er sich nicht sicher war, ob er sein Reich halten konnte. Was würde aus seinem Volk werden, wenn Jarmar oder Freywan die Macht über Delryen gewannen? Das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Jeder Muskel in seinem Körper bebte.
  »Ich werde am Tor kämpfen«, sagte er.
  »Nein, das werdet Ihr nicht«, widersprach Thálian. »Niemandem hilft es, wenn Ihr in der Schlacht fallt.«
  »Sire, seht nur!«, stieß der Armbrustschütze hervor, der direkt rechts neben Imendur stand.
  »Was um alles in der Welt tut Jarmar da?«, fragte Imendur und schwamm näher an die Schießluke im Dach heran, um den Teil von Jarmars Armee zu beobachten, der sich noch außerhalb des Palastes befand.
  »Er lässt seine Vorhut, die bereits in den Palast eingedrungen ist, alleine und kehrt um?«, sagte Thálian fassungslos. »Glaubt er jetzt, dass Freywan den Stein hat?«
  »Ich weiß es nicht«, erwiderte Imendur. »Aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Er wird zurückkommen. Armbrustschützen neuformieren!«

Vor dem Tor entbrannte unterdessen ein Kampf zwischen den Sormáren, den Drachen und ihren jeweiligen Verbündeten. Die Drachenreiter und die Krieger auf den Echsen schossen sich gegenseitig mit Harpunen und Armbrüsten ab. Die Echsen griffen die Drachen an, wobei sie sich auf ihre Hinterbeine stellten, um die empfindlichen Halsregionen zu erreichen. Sobald das passierte, war es für die Reiter sicherer herunterzuklettern und als freischwimmende Krieger zu kämpfen. Sie setzten dann Speere und Dolche als Waffen ein, weil ihre Gegner zu nah für eine Harpune oder Armbrust waren. Die Speerkämpfer Freyaras’ zeigten sich extrem treffsicher und wendig, sodass sie die Truppen Dorkas’ bald stark geschwächt hatten. Der Geruch von Blut wurde durch Darnilor getragen.

  »Instruiert unsere Speerkämpfer am Tor. Sobald Freywan uns angreift, müssen wir die Gelegenheit nutzen, wenn die Echsen in kleinen Gruppen dort passieren«, rief Imendur. Die Truppen Freywans hatten inzwischen die Angreifer aus Dorkas so stark dezimiert, dass sie sich wieder auf ihr eigentliches Ziel, den Palast von Darnilor konzentrieren konnten. Sie näherten sich dem Tor, obwohl ihre Flanken von den Drachen und den restlichen Kriegern Jarmars weiter attackiert wurden. Zeitweilig schien es, als gewänne Jarmar nun die Oberhand. Das Warten wurde unerträglich. Plötzlich verstummten die Kampfgeräusche. Nach einem Augenblick der Stille ertönte erneut das laute Gebrüll von Kriegern, Echsen und Drachen und dann spürte Imendur die Druckwelle, als beide Armeen gemeinsam mit hoher Geschwindigkeit auf das Tor zuschwammen. Anscheinend gab es ein neues Bündnis.

  »Macht Euch bereit!«, stieß Imendur hervor.
  Dorkas hatte wieder unbemannte Drachen vorgeschickt, die Stück für Stück den Weg nach unten in den Palast freikämpften. Und dann strömten die Speerkämpfer Freyaras’ und Dorkas’ nach. Delryens Armbrustschützen schossen horizontal auf die einfallenden Krieger. Imendur erblickte Freywan und Jarmar. Er legte die Armbrust an seine Wange und versuchte Jarmar anzuvisieren. Aber immer befand sich ein Leibwächter Jarmars in der Schusslinie. Imendur verschoss einen Bolzen nach dem anderen, aber für jeden Leibwächter, den er traf, rückte ein anderer nach. Er konnte Jarmar und Freywan auf diese Weise nicht aufhalten. Die gegnerischen Krieger waren bis in den unteren Bereich des Palastes vorgedrungen. Und durch das Tor strömten weitere ein. Aber die Delryer gaben nicht auf. Manchen gelang es in die Reihen der Feinde einzudringen, sodass am Boden und in zwei weiteren Schichten darüber gekämpft wurde. Die Krieger wechselten zu schnell ihre Positionen, um präzise mit einem Bolzen den Gegner und nicht die eigenen Leute zu treffen.
  »Wir können nicht mehr lange standhalten«, keuchte Thálian neben Imendur.
  »Ich werde nicht zulassen, dass Darnilor wegen eines Mythos zerstört wird, für den nicht der geringste Beweis existiert«, gab Imendur zurück. »Ich muss da runter und mich ihnen direkt stellen.«
  Ohne auf Thálians Einwände zu achten, zog er seinen Langdolch und schwamm auf die Stelle zu, an der er Freywan und Jarmar gerade noch gesehen hatte.

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