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Leseprobe: Clyátomon - Das Erbe

29.04.2018
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Manuela schwebte regungslos im Wasser. Eine Welle aus türkis-blauem Licht strömte auf sie zu. Sie wollte ausweichen, aber sie kam nicht vom Fleck. Gelähmt musste sie abwarten, bis das Licht sie überrollte. Manuela röchelte. Ihr Brustkorb krampfte sich zusammen. Gierig schluckte sie das lichterfüllte Wasser. Aber es half nichts. Sie bekam zu wenig Sauerstoff. Neben ihr schwamm eine zweite Person, die sie nur als Schatten wahrnahm. Diese bewegte sich mühelos. Umkreiste sie in weiten Ellipsen. Als der Meermensch näherkam, erkannte sie die Silhouette: die vertrauten breiten Schultern, das schmale Gesicht und die großen Hände. Jetzt befand sich die Person direkt vor ihr. Andreas lächelte sie an. Manuela versuchte ihm klarzumachen, dass sie keine Luft bekam. Aber weder verließ ein Schrei ihre Lippen, noch konnte sie die Arme bewegen. Sie riss ihre Augen auf und sah Andreas panisch an. Doch er reagierte nicht. Auf einmal gefror das Lächeln in seinem Gesicht und entstellte es zu einer seltsamen Fratze. Sie konnte Schmerz in seinen Augen sehen. Ein heller Lichtstrahl hatte sich durch seinen Rücken gebohrt und kam vorne an der Brust wieder heraus. Wie ein Speer schoss ein zweiter aus dem Nichts von links nach rechts durch seine Hüften. Ein dritter vom Rücken durch den Bauch. Andreas schrie auf. Manuela wollte mitschreien, aber sie konnte immer noch keinen Laut hervorwürgen. Sie kannte dieses Bild. Genauso war Freywan, der König von Freyara, gestorben. Dann fuhr ein Lichtspeer von hinten durch Andreas‘ Kopf, so dass sie sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte.

  Manuela schreckte hoch. Durch die Anspannung ihres Körpers war sie nach oben geschwebt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Beinahe wäre sie gegen die schiefe Ebene aus orangenem Oreichalkos gestoßen, die ihren und Andreas‘ Schlafplatz vor neugierigen Blicken von oben schützte. Sie bemühte sich das Wasser ruhig durch ihre Kiemen ein- und ausströmen zu lassen. Hatte sie geträumt? Oder eine ihrer Visionen gehabt? Manchmal spielte sich vor ihrem inneren Auge die Zukunft ab, manchmal konnte sie einen Blick auf Vergangenes oder Gegenwärtiges werfen, ohne dabei gewesen zu sein. Eine ungewöhnliche Gabe, die sie besaß, weil ihr Vorfahre Custror vor zweihundert Jahren Kontakt mit dem Clyátomon gehabt hatte, dem Stein der Macht. Aber noch konnte sie ihre Fähigkeit nicht kontrollieren. Sie durfte dieses Hellsichtigkeitstraining, das sie heimlich bei Lanthan absolvierte, nicht so nah an sich rankommen lassen. Sonst würde sie noch durchdrehen. Türe zu! Wie nach einem Arbeitstag. Sie wollte Andreas fest in ihre Arme schließen. Doch als sie nach unten sah, pumpte sich dort nur eine durchsichtige Qualle lautlos über das Bodenmosaik mit dem Labyrinth des Minotaurus im Schein des kleinen phosphoreszierenden Nachtlichtes. Andreas lag nicht dort. »Andreas!«, schrie sie. Panik. »Andreas!« Immer wieder. »Andreas!« Adrenalin schoss in ihre Adern. Manuela überschlug sich fast, als sie so schnell wie möglich den Raum verließ, in dem sich Andreas nicht mehr befand.
  Sie fegte die Säulenallee entlang in Richtung Königsturm, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sie im Dunkeln kaum erkennen konnte, wohin sie raste. Aber ihr Gefühl, dass Andreas wirklich etwas passiert sein könnte, ließ sich nicht abschütteln. Auf einmal machte sie sich Vorwürfe, dass sie ihn belog. Dass sie ihm ihren Unterricht bei Lanthan verschwiegen hatte, nur weil Lanthan das so wollte. Obwohl sie sich umgekehrt wünschte, dass Andreas ihr alles, was ihn bewegte, berichtete. Aber sie wusste, dass das schon lange nicht mehr der Fall war. Andreas kämpfte gerne für sich. Und vermutlich wollte er sie dadurch genauso schützen wie sie ihn. Manuela erreichte das Turmzimmer. Leer. Trotzdem schwamm sie noch einmal rundherum, bevor sie sich durch eines der Fenster in die westlichen Gärten hinabsinken ließ. Vielleicht konnte Andreas einfach nur nicht schlafen und machte einen Nachtschwumm, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie steuerte zügig den Tempel der vier Weisen an, in dem Andreas manchmal Zuflucht suchte. Er interessierte sich wie sie für die Religion in den versunkenen Reichen. Aber während sie einfach die Geschichten spannend fand, war es für ihn eine spirituelle Angelegenheit.
  Der kleine Tempel bot vielleicht Platz für zwanzig Leute. Die vier steinernen Altäre standen wunderbar chaotisch im nach oben hin offenen Raum. Als hätte man einen Felsen gesprengt und er wäre in vier Teile auseinandergefallen. Auch die Säulen bildeten keinen Kreis, sondern standen wie zufällig dazwischen. Boden und Säulen überzog ein grünlich glänzendes Material mit einer glasigen Struktur. Manuela schwamm hinein, auch wenn sie schon von weitem sehen konnte, dass ihre Suche noch immer keinen Erfolg hatte.

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